Solothurn
Ex-Kunstturnerin Ariella Kaeslin: «Ich stand vor dem Regal und wusste nicht, welche Schoggi ich mag»
Ariella Kaeslin erzählte am Dienstagabend in der Dulliker Gemeindebibliothek von den negativen Seiten des Spitzensports — und von ihrem Ausstieg.
Ein erstauntes Lachen ging durch das Publikum in der Dulliker Gemeindebibliothek, wenn die ehemalige Kunstturnerin Ariella Kaeslin etwa sagte: «Ich stand vor dem Regal im Supermarkt und wusste nicht, welche Schoggi ich mag.» Auch habe sie nicht gewusst, welche Mengen sie einkaufen sollte, weil ihre Ernährung zuvor stark reguliert gewesen sei.
Dinge, die für «Normalos» — so bezeichnet Kaeslin die Bevölkerung ausserhalb des Spitzensports — ganz selbstverständlich sind, musste die 31-Jährige nach ihrem Rücktritt aus dem Sport vor bald acht Jahren neu herausfinden.
Studium in Psychologie, Sport und Physiotherapie
Zuvor hatte sie jahrelang für das Kunstturnen am Limit gelebt. «Es war eine Herausforderung, meine Bedürfnisse wie Hunger und Müdigkeit bewusst wahrzunehmen», sagt sie über ihr Leben nach der Karriere. Auch die Schule und das soziale Umfeld ausserhalb des Sports hätten ihr anfangs Mühe bereitet.
Mittlerweile kenne sie ihre Lieblingsschokolade, könne sich besser einschätzen und habe sich ein neues Leben aufgebaut. Sie studierte Psychologie und Sport, nun hat sie ein Studium in Physiotherapie angefangen.
Drei Mal wurde Kaeslin zur «Sportlerin des Jahres» gekürt
Von ihrem Weg erzählte sie am Dienstagabend den rund 100 interessierten Zuhörern. Mit Absicht ging sie dabei hauptsächlich auf die negativen Aspekte des Spitzensports sowie auf die Herausforderungen nach ihrem Rücktritt ein — «die schönen Seiten sehen wir alle, wenn wir den Fernseher einschalten», so die ehemalige Kunstturnerin, die zahlreiche Medaillen gewonnen hatte und drei Mal zur «Sportlerin des Jahres» gekürt worden war.
Besonders eindrücklich für das Publikum war ihr Beschrieb der wöchentlichen Gewichtskontrollen: Wer zu viel wog, bekam Trainingsverbot. «Wir wogen darum vor der Kontrolle unsere Trainingskleider ab und zogen dann jeweils das Leichteste an», verrät Kaeslin die Tricks, die die Turnerinnen anwandten. Und dies, obwohl ihre Diät nur etwa zwischen 1000 und 1500 Kilokalorien am Tag umfasste, was unter dem Grundbedarf einer durchschnittlichen Person liegt.
Trotzdem: Sie würde alles nochmals genau so machen
Anfangs hätten ihr die wachsende Aufmerksamkeit von Medien und Sponsoren Mühe bereitet. Mittlerweile sei dies anders. Beim Vortrag wirkte sie denn auch souverän und entspannt, baute zwischendurch Sprüche in die rund einstündige Präsentation ein.
Auch auf die Fragen des Publikums ging sie ein: So antwortete sie auf die entsprechende Frage, sie würde trotz der Herausforderungen und der Erschöpfungsdepression am Schluss alles nochmals genau so machen.
Das rät Kaeslin den Eltern von Kindern im Spitzensport
Eine Zuhörerin fragte dann, ob man sich freuen oder Bedenken haben sollte, wenn das eigene Kind in Richtung Spitzensport gehen möchte. Freude sei angebracht, so Kaeslin. Denn: «Wenn es mir meine Eltern verboten hätten, würde ich ihnen wohl Vorwürfe machen.»
Jemand anderes interessierte, ob sie nach ihrem Rücktritt Unterstützung vom nationalen Turnerverband bekam. Dies verneinte die Luzernerin. «Mittlerweile haben die Verbände aber erkannt, dass der Weg in einen normalen Alltag Schwierigkeiten bereiten kann.»
Die Suche nach der Balance im Alltag
Aus ihrer anstrengenden Zeit im Spitzensport habe sie aber auch einiges mitnehmen können. So habe sie gelernt, an sich selbst zu glauben, sich auf die Gegenwart zu fokussieren und nach dem Stress genügend Zeit für Erholung einzuplanen.
Ausserdem setze sie sich nun täglich Ziele, die davon abhängig seien, wie sie sich fühle: «An einem schlechten Tag kann das heissen, die Uni nicht zu schwänzen», sagt sie lachend. All dies helfe ihr dabei, die Balance zu halten. Denn die braucht sie, auch abseits des Schwebebalkens.
Quelle: az Solothurner Zeitung
Datum: 27.02.2019, 16:00 Uhr
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az Solothurner Zeitung
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